BVB kann deutscher Meister werden - Dortmund im Porträt
Da ist diese Sache mit der „Echten Liebe“, zu der er jetzt mal was loswerden muss. „Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Für mich ist das Blödsinn. Lieben kann ich, wenn überhaupt, nur einen Menschen.“ Das, sagt Werner Hansch, sei echte Liebe. Der Slogan von Borussia Dortmund? Marketinggewäsch, trifft den Kern nicht. „Für die Menschen im Revier bedeuten Vereine wie Dortmund ein Stück vom eigenen Ich“, sagt Manuel Neukirchner. „Mit so einer Meisterschaft wächst man dann auch ein Stück weit wieder als Mensch.“
Für die Menschen im Revier bedeuten Vereine wie Dortmund ein Stück vom eigenen Ich.
Werner Hansch,; Sportreporter
Und damit willkommen in Dortmund – einst eine Stadt aus Kohle und Stahl, Fußball und Bier. Geblieben ist der Fußball. Insofern steht möglicherweise Stadthistorisches an: Der BVB kann am Samstag deutscher Meister werden, zum ersten Mal seit elf Jahren. Dortmund, dieses emotionale Kraftwerk, bereitet sich auf eine Megaparty vor, die diesen Namen verdient: 200.000 Menschen werden am Sonntag in den Straßen erwartet, um die Meistermannschaft zu feiern, vielleicht werden es mehr, das Wetter soll schließlich gut werden. Optimal für eine Trikotparade.
Am Mittwochmittag, drei Tage sind es da noch bis zum Saisonfinale, sieht die Sache zumindest meteorologisch noch ein wenig anders aus, ein kühler Wind haucht über den Vorplatz des Hauptbahnhofs in der Dortmunder City. Ein paar Meter weiter, im Café des Deutschen Fußballmuseums, wärmt Hansch mit seinem Timbre aus Tausend Fußballreportagen. 84 ist er mittlerweile, aber diese Stimme, die wird nie alt. „Die Stimmung“, bricht es aus der Kommentatorenlegende heraus, „ist außerordentlich euphorisch hier. Alles, was in den letzten Wochen passiert ist, das kulminiert jetzt in diesem großen Gefühl, das in der Stadt zu spüren ist.“

Das große Gefühl, das können sie in Dortmund, vor allem im Bezug auf ihren BVB. Nur war es in den vergangenen Jahren eher das intensive Gefühl, abgehängt zu sein, dem eigenen Anspruch nicht zu genügen. Nach den Meistertiteln unter Jürgen Klopp 2011 und 2012 hatte sich der gereizte Rivale aus dem Süden zum Bundesliga-Hegemon aufgeschwungen, zehnmal hintereinander die Schale an die Säbener geholt, den BVB in den Selbstzweifel verbannt. Und jetzt? Führt die Borussia die Tabelle einen Spieltag vor Schluss mit zwei Punkten Vorsprung vor den strauchelnden Bayern an, Führungswechsel am vergangenen Wochenende. Auch psychologisch war es ein Führungswechsel: Dortmund glaubt jetzt dran, mit jeder Faser.
Die Menschen lechzen danach, dass die Schale in die Herzkammer des Fußballs zurückkehrt.
Manuel Neukirchner,; Direktor des Deutschen Fußballmuseums
„Die Menschen lechzen danach, dass die Schale in die Herzkammer des Fußballs zurückkehrt“, sagt Manuel Neukirchner, Direktor des Deutschen Fußballmuseums, in dem Hansch gern und häufig gesehener Gast ist. Neukirchner mag qua Amt DFB-Funktionär sein, aber er ist in erster Linie Ruhrpottmensch, jemand von hier. Und als solcher neigt man dazu, die Dinge zu benennen, wie sie sind. „Der BVB“, sagt der gebürtige Essener, „gehört wie die Luft zum Atmen und das Wasser zum Trinken zum Leben in Dortmund dazu. Das hört sich klischeebeladen an, aber das ist so.“
Aus dem Gestern erklärt sich im Ruhrpottfußball fast alles
Der BVB ist Lebensinhalt, ein Familienmitglied nahezu aller hier. Überall wehen seine Fahnen, Häuser sind kunstvoll in Schwarz-Gelb bemalt. Woher kommt diese Bindung? Bremen mag seinen SV Werder haben, in Stuttgart trägt man den Brustring mit Stolz, Dynamo ist in Dresden tief verwurzelt. Aber im Revier ist das alles noch einmal eine Stufe drüber. In Sachen Leidenschaft und Identifikation macht den Essenern, den Bochumern, den Gelsenkirchenern, den Dortmundern niemand etwas vor. Und das hat viel mit gestern zu tun.
Wer beim BVB nach dem Gestern sucht, muss zurück zum Borsigplatz, zur Geburtsstätte der Borussia in der Dortmunder Nordstadt. Der Borsigplatz ist eigentlich ein riesiges begrüntes Rondell, umkreist von Blechkolonnen, die aus sechs Zufahrtsstraßen auf den Ring drängen. Alles dreht sich, nur die Stadtbahnlinie U44 schneidet quer hindurch, vor der Kulisse der alten Gründerzeitfassaden, die dem allgemeinen Schicksal der alten Stadtsubstanz entkommen sind im Zweiten Weltkrieg. 95 Prozent des Stadtkerns wurden zerstört, der Borsigplatz überlebte. „Weil die Engländer ihn brauchten, um sich zu orientieren“, erklärt Jan-Henrik Gruszecki.
Gruszecki ist in Dortmund eine Kapazität, wenn es um den BVB geht. Er ist Autor und Produzent und war Projektleiter bei der Umsetzung des Films „Am Borsigplatz geboren“ über die Gründungsgeschichte der Borussia, er kommt aus der Fanszene, beim BVB ist er seit 2020 Leiter der Stabsstelle Strategie und Kultur. Und: Er wohnt im Gründungshaus der Borussia am Borsigplatz, er hat es vor einigen Jahren gekauft. „Der Gründungsraum ist heute mein Wohnzimmer“, sagt Gruszecki.
1909 gründeten hier die Männer um Franz Jacobi den Ballspielverein Borussia 09, sie alle arbeiteten ums Eck in der Westfalenhütte der Hoesch AG. Kohle und Stahl, auch das gehört zum Gründungsmythos des BVB. 1937 musste er, erzwungen von den Nazis, von der nahen „Weißen Wiese“ umziehen in den Süden auf die „Rote Erde“ im Bezirk Innenstadt West, ab 1974 spielte die Borussia dann im neuen, zur WM gebauten Westfalenstadion. Die Verbindung zum Borsigplatz war zwar räumlich gekappt, emotional aber verortete sich der BVB immer in der Nordstadt. Der Autokorso um den Borsigplatz ist daher Pflicht, wenn es was zu feiern gibt, auch am Sonntag soll es ihn wieder geben.
Die Zechen und Stahlwerke sind weg, der Arbeitercharakter ist den Menschen geblieben
Kohle und Stahl also, der Bergbau, Quell allen Selbstverständnisses im Revier. Auch der Fußball von heute ist ohne den Bergbau, der das Ruhrgebiet um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zum Kohlenpott werden ließ, nicht zu verstehen. „Tradition spielt hier einfach eine ganz große Rolle“, sagt Hansch, „vor allem die Gründertradition. Der Fußball ist hier groß geworden in einer Zeit, als die Zechen wie Pilze aus dem Boden schossen.“ Das eine hat das andere bedingt. Und auch wenn die Zechen längst Geschichte sind, der Strukturwandel die Region in den letzten Jahrzehnten radikal verändert hat, so hat er doch die Menschen und ihren Charakter nicht verändert.

„Der Fußball“, sagt Neukirchner, „ging aus der Arbeiterschaft hervor. Unter Tage musste man sich aufeinander verlassen, und das wurde dann auch über Tage praktiziert auf dem Fußballplatz. Diese DNA hat sich in dieser Region bis heute erhalten. Wenn ein Fußballer hier kämpft und rackert, dann hat das einen höheren Stellenwert als La-Paloma-Fußball.“ Das mag man als Folklore abtun, man hat es zu oft gehört, als dass man es noch glauben mag. Aber Neukirchner lässt da nicht locker: „So wie die Karte auf der Südtribüne von Generation zu Generation weitergegeben wird, wird auch die Mentalität weitergegeben. Deshalb ist der Fußball so verbunden mit der Region und mit den Menschen.“
Und das über alle Widersprüche hinweg, der BVB ist da ein Extrembeispiel, wie robust die Leidenschaft der Fans sein kann. Die Lizenzspielerabteilung ist seit 2000 ein börsennotiertes Unternehmen, die Borussia ein Big Player mit dem Streben nach internationaler Geltung. Die Spieler verdienen hier teilweise zweistellige Millionenbeträge, während Teile der Fans seit jeher eher in den niedrigen Lohnklassen unterwegs sind.
„Ich wäre auch ohne Rummenigge arbeitslos. Dann lieber mit Rummenigge“
Gut, dass man im Revier von Neid aber offenbar nicht viel hält. Es mag anekdotische Evidenz sein, auf die sich Museumsmann Neukirchner dabei bezieht, aber er erzählt diese Geschichte trotzdem gern, sie stammt aus seiner Zeit als Radioreporter Ende der Achtzigerjahre. Damals war gerade Michael Rummenigge von Bayern München zum BVB gewechselt und strich gutes Geld ein, Neukirchner interviewte einen arbeitslosen Trainingskiebitz zu dieser Schieflage der Verhältnisse. „Er sagte: Ich wäre mit oder ohne Michael Rummenigge arbeitslos. Dann lieber mit Rummenigge.“
Aus den Achtzigern zurück ins Jahr 2023, in eine transformierte Stadt. Dortmund ist heute Dienstleistungszentrum, Wissenschafts- und Hochtechnologiestandort, Hauptsitz mehrerer Versicherungen. Die Stätten alter Größe sind in diese neue Struktur übergegangen. Auf dem ehemaligen Stahlwerksareal Phoenix-Ost etwa wurde der Phoenixsee angelegt, heute ist er Naherholungsgebiet und hochpreisiger Wohnort.
Und dann ist da noch die Kulturszene, lebhaft, innovativ, integrativ. Das berühmte Dortmunder U zum Beispiel, einst Kellerhochhaus der Union-Brauerei, ist heute ein Kreativzentrum, Ort für Sonderausstellungen. Man bewegt sich hier auf Augenhöhe mit den etablierten Kulturstandorten der Republik. Das Selbstbewusstsein wächst, auch der Sinn für Humor – selbst im ernsten Fach. „Dortmund ist Meister!“ plakatierte die Oper Dortmund im Frühjahr.
Ein Besuch beim Meister. Die Dortmunder sind bei den renommierten Awards des Fachmagazins „Oper!“ zum Opernhaus des Jahres 2022 gekürt worden, als beste Spielstätte im deutschsprachigen Raum. „Es ist das Höchste, was so ein Haus erreichen kann. Und es ist etwas Besonderes für ein Haus aus dem Ruhrgebiet, weil wir hier in einer klassischen Underdog-Position sind“, sagt Intendant Heribert Germeshausen und verweist nicht ohne Stolz auf einen Erfolg mit geringeren Mitteln als die Konkurrenz. Die kommt übrigens aus München. Die Bayerische Staatsoper ist der Krösus.
Die Klassik hat vorgelegt, jetzt ist die Volksoper Fußball dran. Ein Sieg gegen Mainz 05 zu Hause, dann ist die Schale wieder eine Dortmunderin. Gewinnen die Bayern zeitgleich nicht in Köln, ist der BVB in jedem Fall Meister. Alles blickt deshalb nach Dortmund, die Original-Meisterschale wird im Signal-Iduna-Park vorgehalten, Sky sendet mehr als sieben Stunden lang aus dem Stadion, über der Roten Erde zu Füßen des Tempels kreist am Spieltag der Live-Copter von TVN, 30 Kameras sind im Einsatz, der größte Ü-Wagen im deutschsprachigen Raum kabelt seine Signale in die Republik.
Herzmenschen wie Werner Hansch holt es da fast von den Füßen. Plötzlich ergreift ihn diese spezielle Ruhrpott-Melancholie. „Kennen Sie dieses schöne Lied?“, sagt er und stimmt Marlene Dietrich an. „Wenn ich mir was wünschen dürfte / Möcht ich etwas glücklich sein / Denn wenn ich gar zu glücklich wär / Hätt ich Heimweh nach dem Traurigsein.“ Seine Augen werden feucht. Am Samstag will ganz Dortmund mit ihm weinen. Dann vor Glück.