„Tiere sind nicht schuldfähig“: Soziologin Julia Gutjahr über den Umgang mit Problembären
In den nächsten Tagen soll ein Gericht über die Zukunft der Bärin Gaia entscheiden. Muss sie eingeschläfert werden, weil sie einen Menschen getötet hat? Oder darf sie in Gefangenschaft weiterleben? Politiker fordern, kurzen Prozess zu machen. Tierschützer hingegen kämpfen für Gaias Freilassung und versuchen sogar, ihre „Unschuld“ zu beweisen. Was sagt es über uns Menschen aus, wenn wir Tiere bestrafen oder unbedingt retten wollen? Das RedaktionsNetzwerkDeutschland sprach darüber mit Julia Gutjahr, die als Soziologin auf die Erforschung von Mensch-Tier-Beziehungen spezialisiert ist.
Die Bärin Gaia hat mehrfach Menschen angegriffen und soll nun einen getötet haben. Dadurch wurde sie für manche zum Feindbild. Gibt es gute und böse Tiere? Und wenn nicht, warum empfinden Menschen das so?
Ob es böse Tiere gibt, ist aus soziologischer Sicht eine schwierige Frage. Dieses Konzept ist bereits unter uns Menschen nicht immer eindeutig: Welcher Mensch ist böse und welcher gut? Das hängt auch vom kulturellen und historischen Kontext ab. Die neuere verhaltensbiologische Forschung geht dem Ansatz nach, inwieweit bestimmte intelligente Tiere wie einige Vögel ansatzweise als moralische Akteure verstanden werden können und zum Beispiel zum Altruismus in der Lage sind. Eigentlich können wir aber davon ausgehen, dass Tiere ihr Verhalten nicht moralisch reflektieren und an Normen ausrichten können.
Wir neigen dazu, bestimmte Tiere – oft Raubtiere – anders wahrzunehmen, auch wenn die reale Gefahr für Menschen durch sie gering ist. Jeder hat Angst vor Haien, dabei töten herabfallende Kokosnüsse mehr Menschen. Und: Niedliche Flusspferde bringen mehr Menschen um als Tiger oder Löwen.
Aus soziologischer Sicht kann man sagen, dass es Zuschreibungen von Eigenschaften an bestimmte Spezies gibt. Das kann wegen einer realen Gefahr wie der Übertragung von Zoonosen so sein, aber auch einfach wegen kultureller Ideen, die sich wandeln und je nach Kultur unterscheiden können. Katzen galten im Mittelalter aufgrund eines verbreiteten Aberglaubens als böse und Symbol für Hexerei. Es gab damals richtige Katzenmassaker, Anfälle von kollektiver Gewalt gegen sie. Heute sind Katzen geliebte Heimtiere.
Zur aktuellen Debatte um Bären und Wölfe lässt sich sagen: Wölfe wurden im Laufe der westlichen Kulturgeschichte, also im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, dämonisiert. In bestimmten indigenen Kulturen Nordamerikas zum Beispiel ist das aber interessanterweise ganz anders. Wenn nun Einzelfälle wie jetzt der der Bärin Gaia skandalisiert werden, liegt das sicher auch daran, dass es mediale Aufmerksamkeit verspricht und politisch als Wahlkampfthema genutzt werden kann. Ein Phänomen, das wir auch bei Gewalt unter Menschen beobachten.
Die Debatte um „Problembären“ wie Gaia oder damals ihren Bruder Bruno wird aber nicht nur von Politikern, sondern auch in den Kommentarspalten sehr emotional geführt. Woran liegt das?
Einerseits werden hierbei reale Interessen von Menschen berührt, wie etwa von Bauern, die Angst um ihre Weidetiere haben, oder Menschen, die in der Region leben und sich fürchten. Trotzdem gibt es natürlich viel größere Gefahren für Menschen wie etwa Verkehrsunfälle, die aber für weniger Aufsehen sorgen. Es handelt sich wohl auch um einen kulturellen Konflikt. Es gibt unterschiedliche Einstellungen gegenüber Tieren.
Wir wissen aus Studien, dass bestimmte Gruppen eher die Idee von Tierrechten unterstützen als andere. Bildung, persönliche Erfahrungen mit Tieren und Geschlecht sind zum Beispiel Faktoren. Auch Stadt-Land-Unterschiede spielen eine Rolle. Viele Stadtbewohner haben oft eine emotionalere Beziehung zu Tieren und haben eher die Vorstellung, dass diese auch Rechte haben. Bei der Landbevölkerung ist das etwas weniger verbreitet, denn hier gibt es auch mehr Kontakt zu Nutztieren, die eher unter ökonomischen Aspekten betrachtet werden. Gleichzeitig sind wilde Tiere für die Landbevölkerung ein Problem, wenn sie Weidetiere hält.
Die Bärin Gaia wurde lebend gefangen und stellt somit keine Gefahr für Menschen mehr dar. Trotzdem besteht ein Regionalpolitiker darauf, sie zu töten. Das Tier muss sogar in Gefangenschaft beschützt werden, weil Angriffe auf sie befürchtet werden. Warum wollen Menschen ein Tier bestrafen?
Solch ein Tier zu töten erscheint zunächst als einfache Lösung und weniger aufwendig, als es einzufangen und langfristig unterzubringen. Es handelt sich aber wohl auch um eine symbolische Lösung: Die normative Ordnung soll dadurch wiederhergestellt werden, zum Beispiel in dem Sinne, dass der Mensch über dem Tier steht. In menschlichen Gesellschaften soll eine Strafe immer auch eine soziale Funktion haben, sie soll abschrecken und bei den Bestraften eine Besserung herbeiführen. Bei Tieren macht all das keinen Sinn. Sie sind nicht schuldfähig und wissen überhaupt nicht, dass sie gegen eine Norm verstoßen haben. Warum Menschen trotzdem ein Rachebedürfnis auf ein Tier projizieren, müsste man im Einzelfall vielleicht auch psychologisch analysieren. Früher gab es das besonders absurde Phänomen der „Tierprozesse“. Darin wurden zum Beispiel Ratten dafür verurteilt, dass sie angeblich die Ernte verdorben hatten.
Interessanterweise wird das Argument des Tierschutzes inzwischen von beiden Seiten angeführt: Die einen setzen sich für das Recht von Wölfen und Bären auf ein Leben in der freien Natur ein. Manche Gegner dieser Idee stellen dem nun das „Leid von Nutztieren“ gegenüber, die von Wölfen und Bären gerissen werden.
Diese in Einzelfällen laut werdende moralische Empörung über das Leid der Nutztiere durch Bären und Wölfe ist etwas seltsam. Denn der größte Verursacher vom Leid der Nutztiere ist natürlich der Mensch. Andererseits zeugt es aber auch von moralischer Inkonsistenz, wenn jemand große Sympathie für charismatische Wildtiere wie Bär oder Wolf an den Tag legt, aber weniger für Nutztiere, die er täglich isst. Es ist einfacher zu sagen, ich möchte nicht, dass ein Bär getötet wird, als auf das Essen von Nutztieren zu verzichten.
Diese in Einzelfällen laut werdende moralische Empörung über das Leid der Nutztiere durch Bären und Wölfe ist etwas seltsam. Denn der größte Verursacher vom Leid der Nutztiere ist natürlich der Mensch.
Manche Gruppen treiben den Tierschutz heute sehr weit. Zum Beispiel gibt es Aktivisten, die Hunde aus umkämpften Gebieten in der Ukraine retten, während dort auch Menschen sterben. Wird das tierische Leid heute teilweise über das menschliche gestellt?
Allgemein lässt sich eher sagen, dass Tierschützer und Tierrechtsaktivisten in der Regel auch menschenfreundlicher sind. Das mag bei einzelnen Akteuren vielleicht anders sein. Der Grund kann eine Verbitterung sein, wenn sich jemand sehr stark mit dem Tierleid identifiziert: weil Tiere als Opfer extrem schutzlos und der Gewalt von Menschen völlig ausgeliefert sind.
Es gibt da aber schon sehr extreme Verhaltensweisen und Einstellungen. Als in Deutschland ein gefährlicher Kampfhund eingeschläfert werden sollte, kam es vor einigen Jahren zu Morddrohungen gegen die Verantwortlichen.
Sie meinen den Fall Chico, ich habe damals die Reaktionen im Netz mitverfolgt. Mein Eindruck war, dass hier viele wütende Kommentare nicht von echten Tierrechtlern oder Tierschützern kamen. Es waren Hundefreunde, die es ungerecht fanden, auch weil Chico wohl schlecht gehalten worden war, bevor er seine Besitzer angriff. Die aggressiven Reaktionen kamen vielleicht auch daher, dass Chico zur Projektionsfläche wurde: Es gibt bestimmte Kampfhundehalter, die sich selbst als von der Gesellschaft benachteiligte „Underdogs“ sehen.
Das Verhältnis zu Haustieren kann bei Tierfreunden ganz unterschiedliche Züge annehmen. Viele pflegen ein inniges Verhältnis zu ihrem Hund oder ihrer Katze. Einige Aktivisten der „Letzten Generation“ hingegen sagen, dass Haustiere überflüssig sind und dem Klima schaden. Dabei ist ihr Ziel der Naturschutz und letztlich auch die Artenvielfalt zu erhalten. Irgendwie ist es verwirrend.
Tatsächlich ist die Position, Haustierhaltung abzulehnen, gar nicht so neu in der Tierrechtebewegung. Viele finden, man sollte Haustiere nicht weiter züchten. Heimtierhaltung ist immer auch eine Machtausübung, die Tiere sind das Eigentum der Menschen. Zudem entstehen durch die Haustierzucht immer wieder Krankheitsbilder bei Tieren. Neu ist vielleicht nur das ökologische Argument. Im Übrigen ist Klimaschutz aber auch nicht gleichzusetzen mit einem Einsatz für Tierrechte, selbst wenn es Überschneidungen gibt.
Im bayerischen Landkreis Rosenheim hat ein Bär zwei Schafe gerissen. Ein drittes Tier wurde verletzt, es musste daraufhin getötet werden.
Wurden Haustiere früher schlechter und Nutztiere früher besser behandelt als heute?
Bei der Nutztierhaltung gibt es ganz klar einen exponentiellen Anstieg der Gewalt gegen Tiere, und zwar allein schon deshalb, weil heute so viel mehr Nutztiere gehalten werden. Außerdem gibt es heute Zuchtziele und Haltungsbedingungen, unter denen Tiere mehr leiden. In einigen Bereichen gibt es aber auch Verbesserungen, zum Beispiel gibt es in der Rinderhaltung keine dauerhafte Anbindehaltung mehr.
Heimtiere werden heute immer mehr als Individuen gesehen. Es gibt diese Tendenz, menschliche Normen auf Tiere anzuwenden, sie wie Familienmitglieder zu behandeln, ihre Geburtstage zu feiern und sogar professionell bestatten zu lassen. Gleichzeitig gibt es auch Züchtungen, die der Gesundheit der Heimtiere schaden, und viele Fehler bei der Unterbringung, die oft nicht artgerecht ist. Es ist etwas widersprüchlich. Was jedenfalls klar ein Phänomen der Moderne ist, ist diese unterschiedliche Betrachtung, diese Trennung und Einteilung von Heim- und Nutztieren nach ihrer Funktion. Das gab es früher weniger.
Ab welchem Punkt setzt beim Umgang mit Heimtieren eine Vermenschlichung ein?
Ich mag den Begriff nicht so sehr, denn er beinhaltet bereits eine negative Wertung. Wenn wir Tieren auch menschliche Eigenschaften zuschreiben, ist das nicht per se falsch, denn sie sind uns sehr ähnlich. Dass Tiere als Ersatz für die Beziehung zu anderen Menschen gehalten werden, das kann vielleicht einmal bei älteren Menschen so sein. Die meisten Heimtiere leben aber in Familien und nicht in Singlehaushalten. Zudem geben Halter in Befragungen oft an, dass sie an ihren Tieren genau das Verhalten schätzen, was sie in menschlichen Beziehungen vermissen: Zum Beispiel, dass deren Zuneigung bedingungslos und beständig ist.
Wenn nun Einzelfälle wie jetzt der der Bärin Gaia skandalisiert werden, liegt das sicher auch daran, dass es mediale Aufmerksamkeit verspricht und politisch als Wahlkampfthema genutzt werden kann.
Ein Tier zu stark zu vermenschlichen ist aber doch auch für die Tiere nicht immer gut?
Ich würde da drei Formen von Vermenschlichung unterscheiden. Die erste Form ist schädlich für das Tier, dazu gehört zum Beispiel das „gut gemeinte“ Überfüttern durch viele Heimtierhalter. Andere Formen der Vermenschlichung wie den Geburtstag eines Tieres zu feiern, sind unnötig, denn es kann dem Ritual keinen Wert beimessen. Sie schaden ihm aber auch nicht. Die dritte und absolut legitime Form der Vermenschlichung sehe ich darin, Tieren wie Menschen bestimmte Rechte zuzugestehen, eben weil sie uns ähneln und ähnliche Empfindungen haben wie wir.
Wird sich das Verhältnis von Menschen zu Tieren in der Zukunft so weit verändern, dass wir irgendwann gar kein Fleisch mehr essen?
Es gibt bereits einen Rückgang beim Fleischkonsum und die Tendenz wird weiter zunehmen. Die Tierrechtsbewegung wird weiter erstarken, und ihre Ideen verbreiteter werden. Ich halte es theoretisch für möglich, dass in der Zukunft die Mehrheit der Menschen auf Fleisch verzichten wird, zumindest in den Industrienationen. Und zwar vor allem deshalb, weil dort Alternativen zur Verfügung stehen werden, die genauso gut schmecken und günstiger sein werden. Es wird aber immer auch Menschen geben, die lieber echtes Fleisch essen, und es wird natürlich auch Widerstände geben. Schon weil Fleischkonsum auch eine symbolische Komponente hat und von manchen mit Männlichkeit gleichgesetzt wird. Und es wird sicher lange auch noch die Jagd geben. Für die Soziologie sind dieser soziale Wandel und auch die Konflikte, die sich abzeichnen, äußerst spannend.